1945 bis 1949 – Das Werk der Briten
Mit der Besetzung der Fabrik durch amerikanische Truppen im April 1945 begann der Umbau des Rüstungsbetriebs zu einem zivilen Automobilunternehmen, das Hoffnung auf eine bessere Zukunft machte. Als größter und wichtigster Arbeitgeber einer industriearmen Region sicherte Volkswagen das Überleben der ansässigen Bevölkerung. Die Fabrik gab den Menschen Arbeit, Wohnraum und Nahrung. Dieser Funktion war sich die britische Militärregierung, die im Juni 1945 Treuhänderin des Unternehmens geworden war, wohl bewusst. Ihre Entscheidung freilich, eine zivile Produktion aufzubauen und die Volkswagen Limousine in Serie zu fertigen, folgte zuallererst dem Bedarf an zusätzlichen Transportmitteln zur Wahrnehmung der Besatzungsaufgaben, zumal der Krieg den Bestand der britischen Militärfahrzeuge verringert hatte. Die Produktionsverpflichtung für die Besatzungsmächte und britischer Pragmatismus bewahrten das Volkswagen Werk vor der drohenden Demontage.
Seine Stellung als britischer Regiebetrieb verschaffte dem Volkswagen Werk eine Reihe von Vorteilen. Die Militärregierung veranlasste die für den Produktionsanlauf notwendigen Kredite und räumte mit Befehlsgewalt manche Hindernisse aus dem Weg. Weil das Unternehmen für die Alliierten produzierte, erhielt es Vorrang bei der Belieferung mit knappen Rohstoffen. Dieses Privileg war in den Jahren der Zwangsbewirtschaftung kaum zu überschätzen. Denn der für die Autoproduktion unentbehrliche Stahl wurde wie die meisten Rohstoffe über ein Quotensystem zugeteilt.
Für den Aufbau einer zivilen Serienfertigung brachte das Volkswagen Werk selbst günstige Startbedingungen mit. Trotz größerer Schäden an den Werksgebäuden hatte der zum Teil ausgelagerte Maschinenpark die alliierten Bombenangriffe weitgehend unversehrt überstanden. Bei ausreichender Kohlenversorgung machte das werkseigene Kraftwerk die Produktion gegen die häufigen Stromabschaltungen in der Nachkriegszeit weitgehend unempfindlich. Zudem verfügte das Unternehmen über ein eigenes Presswerk, und das Vorwerk in Braunschweig kompensierte durch Eigenfertigung von Betriebsmitteln und Fahrzeugteilen zumindest teilweise die stark eingeschränkte Produktion der Zulieferindustrie.
Trotz britischer Protektion beeinträchtigten Material- und Energieengpässe die am 27. Dezember 1945 anlaufende Produktion der Volkswagen Limousine merklich. Die Stahlkontingente wurden häufig verspätet zugeteilt, und wegen Rohstoffmangels konnten die Zulieferer den Bedarf des Unternehmens nur lückenhaft decken. Von ihrer frühen Planung, von Januar 1946 an monatlich 4.000 Pkw für Besatzungszwecke zu fertigen, musste sich die britische Militärregierung rasch verabschieden. Die befohlene Monatsproduktion wurde schließlich auf 1 000 Wagen nach unten korrigiert und pendelte bis zur Währungsreform um diese Marge. Auf Anordnung der Briten hatte die deutsche Werkleitung zwei Mal zuvor den Versuch unternommen, das Fertigungsniveau schrittweise auf 2.500 Wagen im Monat anzuheben. Diese Vorhaben stießen jedoch an die Grenzen der Rohstoff- und Materialbewirtschaftung. Erschwerend trat hinzu, dass die Beschäftigten unter Mangelernährung und allgemeiner Erschöpfung litten. Die hohe Abwesenheitsquote in den ersten beiden Nachkriegsjahren resultierte auch aus der Notwendigkeit, durch Hamsterfahrten und Schwarzmarktgeschäfte das Überleben zu sichern. Die Versorgung der Werksangehörigen mit Lebensmitteln und Kleidung war deshalb eine vordringliche Aufgabe, die schrittweise an den Betriebsrat delegiert wurde und einen Großteil seiner Energien band. Einer Produktionsausweitung stand als zweites entscheidendes Hindernis der Mangel an Arbeitskräften entgegen. Erschwert wurde die Rekrutierung einer neuen Stammbelegschaft durch fehlenden Wohnraum und die hohe Fluktuation der Beschäftigten. Für viele Flüchtlinge und Umsiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die auf der Suche nach Unterkunft und Verpflegung zu Tausenden nach Wolfsburg kamen, stellte die Arbeit im Volkswagen Werk nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Westdeutschland dar. Die allgemeine Abwanderungstendenz wurde durch den chronischen Wohnungsmangel in Wolfsburg verstärkt. Provisorisch waren die meisten Werksangehörigen, getrennt von ihren Familien, in kargen Lagerbaracken untergebracht, in denen zuvor die Zwangsarbeiter hatten hausen müssen. Begehrte Facharbeiter ebenso wie Führungskräfte konnten unter diesen Bedingungen nur schwerlich gehalten oder angeworben werden. Weil an einen Wohnungsneubau in den ersten Nachkriegsjahren nicht zu denken war, verlegte sich das Unternehmen notgedrungen auf die Renovierung und den Ausbau der Barackenunterkünfte. Dadurch konnte das Wohnungsproblem gemildert, aber nicht gelöst werden. Erst die Anbindung des Umlands durch Bus- und Bahnlinien und der werkseigene Wohnungsbau ebneten nach 1950 den Weg zum Aufbau einer Stammbelegschaft.
Für den späteren Aufstieg des Volkswagen Werks stellten die britischen Treuhänder entscheidende Weichen, indem sie einen elementaren Konkurrenznachteil des Unternehmens beseitigten. Bei Kriegsende verfügte Volkswagen nur ansatzweise über einen Kundendienst und ein Vertriebssystem. Beides hatte ursprünglich die Deutsche Arbeitsfront aufbauen sollen, doch war Hitlers großspurig angekündigte Volksmotorisierung in den beginnenden Kriegsvorbereitungen stecken geblieben. Auf Initiative der Briten wurde Ende 1945 die Kundendienstabteilung ins Leben gerufen, bestehend aus Ersatzteillager, technischer Abteilung und Kundendienstschule, wo seit Februar 1946 unter anderem Lehrgänge für die Händler und Monteure der Vertragswerkstätten stattfanden. Mit Kundendienstbriefen und Instandsetzungshandbüchern unterstützte Volkswagen die Arbeit der Werkstätten; die eingerichtete Schadenskartei gab der Technischen Leitung erstmals eine systematische Handhabe, die aufgetretenen Fehler abzustellen. Der Kundendienst erwarb sich in wenigen Jahren einen ausgezeichneten Ruf und profitierte von den Erfahrungen der Royal Electrical and Mechanical Engineers, die im Volkswagen Werk eine eigene Werkstatt unterhielten. Ebenso zügig schritt die Errichtung eines Vertriebssystems voran, nachdem das im Juni 1946 aufgelegte Produktionsprogramm erstmalig den zivilen Verkauf von Volkswagen in Aussicht gestellt hatte. Auf Drängen der Werkleitung genehmigten die Briten Ende Oktober 1946 für ihre Zone den Aufbau einer Händlerorganisation, die durch zwei Reiseinspektoren beraten und zugleich einer strikten Qualitätskontrolle unterzogen wurde. Aus dem Erfahrungsaustausch zwischen Werkleitung und Großhändlern entwickelte sich allmählich eine vertrauensvolle und für beide Seiten profitable Partnerschaft.
Eine zweite zukunftsweisende Entwicklung leiteten die Briten im Sommer 1947 ein. Mit der Entscheidung, den Volkswagen zu exportieren, wollten sie nicht nur dem durch Kriegslasten ruinierten britischen Haushalt dringend benötigte Devisen zuführen. Vielmehr schufen die Briten die Voraussetzungen für den internationalen Erfolg der Volkswagen Limousine und die Weltmarktorientierung des Unternehmens. Der Startschuss für den Export fiel indes zu einem schlechten Zeitpunkt. Die Materialversorgungskrise hatte sich weiter zugespitzt, sodass im August und November 1947 das befohlene Produktionsvolumen nicht gehalten werden konnte. Erst im Jahr darauf fuhr das Auslandsgeschäft allmählich hoch.
Inzwischen hatte die Werkleitung ein für den Export taugliches Limousinenmodell entwickelt, das in Verarbeitung und Ausstattung die Standardausführung übertraf. Mit einer hochwertigen Lackierung in ansprechenden Farben, bequemerer Polsterung, verchromten Stoßstangen und Radkappen behauptete sich der Volkswagen gegenüber der ausländischen Konkurrenz. 1948 umfasste der direkte Export nach Europa 4.385 Fahrzeuge, davon gingen 1.820 in die Niederlande, 1.380 in die Schweiz, 1.050 nach Belgien, 75 nach Luxemburg, 55 nach Schweden und fünf nach Dänemark. Die Ausfuhr stieg im Folgejahr auf 7.127 Fahrzeuge, womit das Volkswagen Werk gut 15 Prozent seiner Gesamtproduktion auf europäischen Märkten absetzte.
Beim Umbau des Rüstungsbetriebs zum Automobilunternehmen spielte der britische Senior Resident Officer Major Ivan Hirst eine entscheidende Rolle. Dank seines Improvisationstalents konnten technische wie organisatorische Probleme gelöst und Versorgungslücken geschlossen werden. Beharrlich drängte Hirst auf Qualitätsverbesserung der Limousine, was wesentlich zur Begründung der internationalen Reputation von Volkswagen beitrug. Als die britische Militärregierung am 8. Oktober 1949 die Treuhänderschaft über die Volkswagenwerk GmbH in die Hände der Bundesregierung legte und das Land Niedersachsen mit der Verwaltung beauftragte, befand sich das Unternehmen in guter Verfassung – mit rund 10.000 Beschäftigten, einer Monatsproduktion von 4.000 Fahrzeugen und einer Kassenreserve von gut 30 Millionen DM. Die Produktion für die Besatzungsmächte verschaffte dem Volkswagen Werk einen gehörigen Vorsprung vor der Konkurrenz. 1948/49 baute es knapp die Hälfte aller in Westdeutschland produzierten Pkw. Auch im Exportgeschäft war das Unternehmen den anderen Automobilherstellern um Längen voraus. Volkswagen befand sich in einer günstigen Startposition, als der internationale Wettlauf um Kunden und Märkte begann.